„Wir sind hier ja nicht alleine“

Jeden Tag berichten die Medien darüber, wie sich Covid-19 auf den Alltag verschiedenster Menschen und Berufsgruppen auswirkt. Es wird von Krankenhäusern berichtet und von Altenheimen. Aus der Eingliederungshilfe hört man jedoch nur selten etwas.

Da drängt sich die Frage auf: Sind wir denn nicht systemrelevant?

Wir begleiten und unterstützen Menschen in unterschiedlichen Intensitäten dabei, so selbstbestimmt wie möglich zu leben. Manche wohnen in unseren Einrichtungen, andere in eigenen Wohnungen, aber alle sind in ihrem Alltag angewiesen auf die Dienstleistung „Hilfe“, die sie bei uns bekommen. Im Gegensatz zu anderen sozialen Einrichtungen wie Jugendzentren etc. mussten und konnten wir (zum Glück!) nicht schließen, auch Home-Office ist in unserem Bereich keine Option.

BeWo-Leitung Heike Rips bringt den täglichen Drahtseilakt auf den Punkt: „Um unserem Auftrag im Rahmen von Teilhabe gerecht werden zu können, wägen wir immer wieder ab: Was kann? Was geht? Und was muss irgendwie gehen?“

Die Umgehensweise der Klient*innen und Mieter*innen ist dabei individuell ganz unterschiedlich.
„Mir fehlen Kontakte, Kultur und Theater.“, sagt Raymond S., der an einem „Unser Haus“-Standort wohnt. „In meiner Freizeit bleibt mir nichts anderes übrig, als lesen, spazieren und fernsehen.“

Für Steffen, Mieter im Viktorheim steht hingegen ganz klar seine Gesundheit im Vordergrund. Im Gegensatz zu Menschen, die alleine leben, kann er Kontakte durch das Leben in einer Wohngruppe nicht vermeiden: „Ich habe Angst krank zu werden und ziehe mich in mein Zimmer und meine Gruppe zurück. Nach meiner Herzoperation habe ich besonders Angst, weil ich nicht so fit bin.“

Jürgen, der ebenfalls im Viktorheim lebt, berichtet, dass er mittlerweile nicht mehr so viel Angst vor dem Virus hat wie zu Anfang der Pandemie. „Natürlich habe ich Angst meine Eltern anzustecken, aber mein Vater passt immer sehr gut auf, wenn ich sie besuche. Da muss ich dann immer Abstand halten und das ist auch gut so.“

Eva Z. erklärt, dass sie sich an die Hygienemaßnahmen und – regeln längst gewöhnt hat. Dazu gehört auch, in den Gemeinschaftsräumen, die sie sich mit den anderen Mieter*innen von „Unser Haus“ teilt, Abstand zu halten. „Ich achte auf meine Gesundheit und halte mich an die Vorgaben. Und ich lasse mich gegen Grippe impfen.“
Damit ist Eva Z. nicht alleine. Unser Haus-Mitarbeiter Christian berichtet, dass die Hygienemaßnahmen auch am Standort Dahlienstraße angenommen werden.
„Die Mieter*innen setzen das im Rahmen ihrer Möglichkeiten überraschend gut um.“

Das ist aber nicht überall so unkompliziert:
„Bei uns gibt es vereinzelt Mieter*innen, die keinen Mund-Nasen-Schutz tragen möchten und denen man das Tragen dessen auch nicht verständlich machen kann. Diese Menschen sind nun gezwungen im Haus zu bleiben, da auch ein Attest weder vom ÖPNV, noch von Einkaufszentren anerkannt wird“, berichtet Saskia von Hagen, die das Viktorheim leitet. Auch sie sei jedoch überrascht gewesen, wie schnell der Großteil der Mieter*innen im Viktorheim die Hygiene- und Schutzmaßnahmen verinnerlicht habe und einwandfrei umsetzen konnte. „Ein wirkliches Verständnis für die Krankheit COVID-19 ist jedoch nicht entstanden. Nahezu täglich hört man den Satz „ich bin doch nicht krank“ oder „ich hab doch nichts“.“
Damit spielt Saskia von Hagen auf den vielleicht schwierigsten Punkt an:

„Der Körperkontakt zwischen Assistent*innen und Mieter*innen fehlt sehr. Eine kurze Umarmung kann oft vieles mehr bewirken als ein langes Eins-zu-Eins Gespräch. Manche Mieter*innen fühlen sich zurückgestoßen, wenn bei einer versuchten Umarmung auf den Mindestabstand verwiesen wird.“

Dies berichten auch Sonja Schmidt und Heike Rips aus ihren Einrichtungen. „Unsere Mieter*innen beschäftigen sich immer wieder mit dem Wunsch nach Umarmungen und wie sehr sie diese Nähe vermissen. Einige haben sich besonders große Kuscheltiere zugelegt, welche sie regelmäßig umarmen.“, erzählt Sonja Schmidt, die den Unser-Haus-Standort Dahlienstraße leitet.
Das kommt aber nicht für jede*n in Frage. Für Heike Rips als Bewo-Leitung ist es deshalb wichtig, auch Risiken abzuwägen. Berührungen sind unersetzlich. Und gerade, wenn es Klient*innen psychisch schlecht geht, manchmal auch in diesen Zeiten nötig. Das kann ein tröstlicher Druck am Oberarm sein oder eine Hand auf der Schulter.
„Auch sich selbst zu berühren, kann trösten und beruhigen. Wir können Klient*innen mit Abstand anleiten sich selbst mit Klopftechniken zu berühren und sie so trotzdem Berührung und auch Selbstwirksamkeit erfahren lassen. Es gibt Studien, dass sich ungeborene Kinder im Mutterleib vermehrt anfassen um sich zu beruhigen, wenn die Mutter gestresst ist. Dazu kommt, dass die Klient*innen das mit ihren Alltagsbegleiter*innen gemeinsam machen. Da findet eine Übertragung statt. Es geht darum, sich selbst auf eine positive Weise selbst zu spüren.“

Trotz aller Vorsicht bleibt immer ein Restrisiko. Darüber machen sich auch die Mitarbeiter*innen Gedanken. „Ich persönlich beschäftige mich eigentlich fast täglich mit dem Thema und das ist natürlich auch so, wenn ich zur Arbeit fahre.“, berichtet Viktorheim-Mitarbeiterin Emma. „In den Sommermonaten war die ganze Situation wesentlich entspannter als zu Beginn der Pandemie. Nun im Herbst, wo die Fallzahlen wieder steigen, macht man sich wieder mehr Gedanken um die eigene Gesundheit und um die der Mieter*innen . Die wesentlichste Veränderung ist allerdings, dass ich mein Verhalten auch außerhalb der Arbeit angepasst habe. Ich möchte nicht Auslöser einer Infektion bei unseren Klient*innen sein. Das ist schon etwas anderes, wenn man beruflich mit Menschen zu tun hat, deren Gesundheit nicht optimal ist.“

Um das Ansteckungsrisiko für die größtenteils zu Risikogruppen gehörenden Mieter*innen klein zu halten, sind Einschnitte nötig, die über die Einschränkungen von anderen Privatpersonen hinausgehen: „Auf Grund der hohen Fallzahlen sind die Sozialkontakte auf ein Minimum reduziert, Einkäufe der Mieter*innen werden von uns Mitarbeitern übernommen und die tagesstrukturierenden Maßnahmen nur noch hier im Haus und nicht mehr zusammen mit dem Standort Haydnstraße angeboten.“, berichtet Unser-Haus-Mitarbeiter Christian.

„Corona hat Menschen mit geistiger Behinderung noch mehr ins Abseits gestellt, als sie es zuvor schon waren“, berichtet Saskia von Hagen. „Inklusion ist nicht mehr möglich, alle Aktivitäten außer Haus sollen vermieden werden und Ressourcen, Anreize und Mobilität gehen dadurch verloren.  Das Viktorheim ist ein sonst sehr lebendiges Haus mit vielen Festen, viel interner Kommunikation und Besuchen der Mieter*innen untereinander, als auch von außen. Das fällt nun alles weg. Eine Dezentralisierung in Bezug auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderung, auf die man die letzten Jahre stark hingearbeitet hat, ist jetzt wieder bei null angekommen.“

Feste und Co. sind natürlich überall ausgefallen. „Mieter*innen geben immer wieder die Rückmeldung, dass sie das jährliche Programm vermissen, das Sommerfest, St.Martin, Nikolaus, Bingo…“, erzählt Sonja Schmidt auch aus ihrer Einrichtung. Dazu kommt das Vereinsleben des FFB mit regelmäßigen Tanz- und Kegelangeboten, die es 2020 nicht gegeben hat und die auch 2021 noch in den Sternen stehen. Gerade für viele Bewo-Klient*innen hat der völlige Wegfall üblicher Gruppenangebote und Freizeitaktivitäten einen großen Einschnitt bedeutet. Sie alle leben in eigenen Wohnungen und haben nicht automatisch – wie die Mieter*innen der besonderen Wohnformen – sozialen Anschluss. „Dennoch wollen wir für die Klient*innen soviel Normalität und damit auch Orientierung wie möglich erhalten“, stellt Heike Rips klar. Das bedeutete auch, dass im Bewo alle Klient*innen konsequent durch sämtliche Lockdownphasen begleitet wurden und werden. „Es ist in der Zeit einmal mehr deutlich geworden, dass die Mitarbeiter*innen sehr gute Arbeit machen. Wir konnten die Klient*innen auffangen und es ist auch in der Krise niemand dekompensiert.“ Teil des Erfolgsrezepts ist es auch, immer wieder den Blick ins Positive zu lenken und den Klient*innen aufzuzeigen, was alles noch geht und wo es ihnen, trotz aller Verluste im Alltag, besser geht als vielen anderen. „Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiter*innen. Nur, wenn wir selbst auch einen positiven Blick bewahren, können wir diese Einstellung vermitteln.“

Dass sich schwierige Zeiten mit Humor leichter meistern lassen, ist auch privat das Credo von Sonja Schmidt. Krisen erfordern Kreativität und Zuversicht. „Uns ist allen bewusst, dass Angst kein guter Begleiter ist. Wir setzen alles daran, unseren Mieter*innen unnötige Ängste zu nehmen und ihnen ein bisschen Normalität zu ermöglichen. Wir haben zum Beispiel dieses Jahr zum ersten Mal einen hausinternen Trödelmarkt organisiert, mehrmals gegrillt und auch die Geburtstage der Mieter*innen hausintern gefeiert.“

Das gilt auch für das Viktorheim, auch wenn es nicht immer leicht ist, durchweg positiv zu bleiben, wie Saskia von Hagen erzählt: „Auch die Mitarbeiter*innen haben ein anstrengendes Jahr hinter sich. Trotz der ganzen Einschränkungen versuchen sie ihr Möglichstes um den Menschen im Viktorheim einen abwechslungsreichen Alltag zu bieten. Jahreszeitliche Feste wurden dieses Jahr in jeder WG für sich gefeiert, so gut es eben ging. Monatelang waren alle Mieter*innen im Haus, da die Werkstatt für behinderte Menschen geschlossen hatte. Es sind unzählige Überstunden entstanden, da die Mitarbeiter*innen durchweg so flexibel waren die Dienste nach Bedarf anzupassen und zu verlängern. Auch gab es kaum Krankmeldungen. Viele Mieter*innen waren frustriert wegen der ganzen Einschränkungen  und haben Auffälligkeiten gezeigt, dies musste zusätzlich noch von den Mitarbeiter*innen aufgefangen werden. Dazu kommt noch die unterschwellige Angst, dass es doch einen Corona-Fall im Viktorheim geben wird und wie dies verlaufen würde. Ich hoffe sehr, dass schnell bessere Zeiten kommen, damit die Belastungsgrenze aller nicht noch weiter überschritten wird.“

Da sind sich natürlich alle einig. „Ich persönlich merke, dass die Zusatzbelastung, die Corona (mit immer neuen Vorgaben) für die tägliche Arbeit bedeutet, mir alles abverlangen.“, räumt auch Sonja Schmidt ein. „Hier bin ich froh, dass ich den Rückhalt, die Sicherheit und das Vertrauen von der pädagogischen Leitung und der Geschäftsführung habe. Ich merke, dass wir – Mieter*innen und Mitarbeiter*innen – trotz Mindestabstand näher zusammen gerückt sind.Wir stärken uns gegenseitig und keiner bleibt allein. Das gibt mir als Leitung und Kollegin ein gutes Gefühl; Kraft und Zuversicht, dass wir Corona gemeinsam überstehen!“

Übrigens: den Corona-Bonus, den Pflegekräfte erhalten haben, erhalten Mitarbeiter*innen der Eingliederungshilfe nicht. Das hat nicht nur bei den Mitarbeiter*innen des FFB für Unverständnis gesorgt. Denn ob Altenpflege oder Eingliederungshilfe: In beiden Bereichen setzen die Mitarbeiter*innen jeden Tag auch die eigene Gesundheit aufs Spiel um sich um andere Menschen zu kümmern. Auch die Geschäftsführung des FFB konnte das nicht verstehen und hat als Zeichen der Wertschätzung und Durchhalteappell aus eigener Tasche einen Corona-Bonus an alle Mitarbeiter*innen ausgezahlt.